Ein Schal entsteht oder der lange Weg von der Idee zum fertigen Produkt

Die Idee zu einem Webstück kann von vielen Seiten kommen. Mal inspiriert mich ein Garn, das im Regal steht oder das ich gesponnen habe, mal sind es Farben, die ich auf einem Bild oder in der Natur gesehen habe und abbilden möchte, oder es inspiriert mich eine bestimmte Webstruktur, ein Webmuster oder eine spezielle Webtechnik, die ich anwenden möchte.
Bei dem Schal, dessen Entstehungsgeschichte ich hier mitschreibe, wollte ich ursprünglich ein Gefühl ausdrücken, ein weiches, wohliges Gefühl. Wie ein ruhiger Herbsttag mit warmen Sonnenstrahlen. Das Garn soll weich und fein sein. Ich stelle Merinomischungen in Erd- und Blautönen zusammen, aber dabei fehlt mir noch die Frische.

Farbkarten mit Faserproben werden ausgelegt, um Ideen zu bekommen.
Dabei fällt mir ein Beerenton ins Auge und plötzlich entsteht die Idee zu einem „Brombeertuch“. Verschiedene Farben von Beerensäften sollen miteinander kombiniert werden. Dazu suche ich mir zwei kräftige und einen blassen Beerenton aus.

Im nächsten Schritt wird festgelegt, welche Bindung und welches Webmuster der Schal bekommen soll. Die Bindung, also die Reihenfolge und die Anzahl in der sich die Fäden kreuzen, beeinflusst, wie fest oder fließend das Gewebe ist. Das Webmuster wird sozusagen über die Bindung gelegt und bestimmt im Wesentlichen die Optik des Gewebes.
Da der Schal weich und fließend sein soll, entscheide ich mich für eine Köperbindung (Jeansstoff ist beispielsweise eine Köperbindung). Nur welches Webmuster soll es sein? Es werden Bücher gewälzt, bereits fertige Webstücke betrachtet, in Internetforen nach Mustern gesucht, Ideen entworfen und wieder verworfen.

Langsam entwickelt sich eine konkrete Vorstellung und das Muster wird mit Hilfe des Computers visualisiert.

Jetzt muss der gesamte Schal berechnet werden. Wie breit und wie lang soll er werden? Danach richten sich die Anzahl und die Länge der Kettfäden (das sind die Längsfäden des Gewebes). Im Laufe des Entwicklungsprozesses wird der Schal immer breiter und schließlich plane ich ein Tuch mit etwa 90cm fertiger Breite und 180cm fertiger Länge. Es müssen Schrumpfen, Einweben und Zugaben für den Webstuhl eingerechnet werden. Letztendlich brauche ich für das Tuch 824 Fäden à 270cm Länge.

Die Kettfäden, kurz Kette genannt, plane ich in dem dunkleren Brombeerton, unterbrochen von Streifen in blassem Rosa. Dazu brauche ich einen Scherplan, der mir anzeigt, wie viele Fäden ich in welcher Farbe und Reihenfolge scheren muss. Scheren bedeutet, alle benötigten Fäden auf die exakt gleiche Länge zu bringen. Dies kann beispielsweise mit Hilfe eines Scherbaums gemacht werden.

Um nicht 824 Mal mit einem Faden die benötigte Länge auf den Scherbaum zu wickeln, wird berechnet, wie viel Garn beim Scheren mit vier Fäden benötigt wird. Diese Menge Garn wird auf Spulen gewickelt und anschließend mit vier Fäden gleichzeitig geschert. Das erspart viel Zeit.

Das Vorbereiten der Spulen und Scheren der Kettfäden dauert bei diesem Tuch knapp eine Stunde.

Nach dem Scheren kommt die Kette auf den Webstuhl. Die Fäden werden hinten am Kettbaum befestigt und in den sogenannten Reedekamm auf dem Webstuhl eingelegt. Der Reedekamm bringt die Kette auf die berechnete Breite.

Dank des Reedekamms laufen die einzelnen Kettfäden parallel zueinander, und sie können mit einer gleichmäßigen Spannung auf den Kettbaum gewickelt werden.

Nach diesem Prozess, den man Aufbäumen nennt, wird der Reedekamm abmontiert und es beginnt die Sisyphosarbeit. Alle 824 Kettfäden müssen einzeln durch die richtigen Litzen auf den acht Schäften gezogen werden.

Diese Arbeit ist langwierig, muss aber trotzdem konzentriert erledigt werden, da ein Fehler im Litzeneinzug einen Fehler im gesamten Webstück bedeutet.

Nach dem Litzeneinzug kommt der sogenannte Blattstich. Dabei werden die Kettfäden durch die Schlitze des Webkamms gezogen. In diesem Fall kommen immer zwei Fäden durch einen Schlitz. Mit dem Webkamm schiebt man beim Weben die quer eingebrachten Schußfäden an die richtige Position.

Als nächstes verknüpfe ich die Tritte des Webstuhls mit den richtigen Schäften, damit die gewünschte Bindung entsteht.

Zuletzt werden die Kettfäden vorne am Warenbaum des Webstuhls angebunden und gleichmäßig auf Spannung gebracht.

Der Prozess des Aufbäumens, Litzeneinzugs, Blattstichs, Tritte Aufbindens und Anbindens hat fast vier Stunden gedauert.

Erst jetzt, nach diesem langen Prozess des Entwerfens und der Vorbereitungen am Scherbaum und am Webstuhl, kann mit dem eigentlichen Weben begonnen werden.

Nach sechs Stunden ist das Tuch über 2m lang und kann vom Webstuhl abgenommen werden.

Anschließend müssen die Fransen gedreht werden. Damit wird ein Auftrennen des Gewebes verhindert und es sieht hübsch aus. Mit Hilfe eines Fransendrehers können immer zwei Fransen gleichzeitig hergestellt werden. Dabei werden zwei mal zwei Fäden zu einer Kordel gedreht und am Ende verknotet.

Bei 824 Fäden bedeutet das, auf jeder Seite 206 Fransen zu drehen. Damit bin ich gut fünf Stunden beschäftigt.

Zuletzt wird das Gewebe gewaschen, nach dem Trocknen gedämpft und versäubert. Erst jetzt ist das Tuch wirklich fertig.

Insgesamt war ich über 16 Stunden mit der Herstellung des Webstücks beschäftigt, die Zeit für die Ideenfindung, den Entwurf und die Gewebeberechnung nicht eingerechnet.

Garnverbrauch: 340g
Größe: 90cm x 185cm
Fransenlänge 14 cm
Gewicht: 300g